Imaginationen
Der Trainer sagt zum Stabhochspringer:
Wenn du dich nicht schon über die Latte schweben siehst, darfst du noch nicht loslaufen.
Der Meister sagt zu Professor Eugen Herrigel (Zen in der Kunst des Bogenschießens, O.W. Barth-Verlag):
Das ist es ja eben, dass Sie sich darum bemühen, dass Sie daran denken. Konzentrieren Sie sich ausschließlich auf die Atmung, als ob Sie gar nichts anderes zu tun hätten.
Der Yogalehrer sagt zum Übenden:
Stellen Sie sich vṛkṣāsana vor. Nennen Sie die Übung beim Namen. Überlassen Sie es prāṇāyāma, dem nächsten Glied von aṣṭāṅga, dass Sie ein Baum sind – und ganz nebenbei auf einem Bein stehen. (Genauer kann man das nicht bezeichnen; dass es fremd klingt, sollte nicht mit ungenau verwechselt werden.)
Er sagt:
Sie – Körper, Geist, Gemüt – sind das Produkt Ihrer Vorstellungen.
Ihre Vorstellungen sind träge, zäh (tamas), aktiv, bewegt (rajas), heiter, zielbewusst (sattva).
Er zitiert:
prakāśa-kriyā-sthiti-śīlaṃ bhūta-indriya-ātmakaṃ bhoga-apavarga-arthaṃ dṛśyam //
Das Sichtbare besteht aus Elementen und Sinnen,
hat den Charakter von Licht (sattva), Tätigkeit (rajas) und Beharrung (tamas)
(und existiert) um der Welterfahrung und Erlösung willen.
Yoga-Sūtra II,18
Was sich menschlicher Geist vorstellt und hervorbringt, ist nicht wirklich Menschenwerk. Yogadidaktik lässt nicht ab von dieser Feststellung und provoziert die Anschlussfrage: „Wenn nicht du oder ich, wer dann?“ Yoga lässt auch die allfällige Antwort nicht zu: der Trainer, der Meister, der Lehrer. Denn das ist ein Angelpunkt der Yogalehre: dem Fragenden muss das Bild erhalten, die Frage offen bleiben. Wie das geschieht, das lehrt der Yoga.
Das gewählte Bild, die Imagination, muss regelmäßig erneuert, die Kunst des Imaginierens, das Sehen der Bilder, sorgfältig geschult werden. Dabei kommt es noch nicht einmal auf bestimmte, „passende“ Vorstellungen an. Wichtig ist vielmehr zu verhindern, dass die Bilder selbständig werden, dass der Übende – im Üben – zum Träumer wird. Ein Baum ist ein Baum, eine Rose ist eine Rose. Schlicht, ohne Assoziationen über den Baum, die Rose oder über sonstwas. Imaginieren und Assoziieren schließen einander gegenseitig aus. Es ist eine Domäne des Yoga, wie träumen und assoziieren gefördert und/oder verhindert werden kann, zum Beispiel in der Yogadisziplin Yoga-Nidrā.
Aber auch in einer gut geführten Stunde mit āsanas (Körperhaltungen) können Träume, Grübeleien, Gedanken keine eigenen Wege gehen. (Erfahrene Yogalehrer wissen, warum manche Übende zum Unterricht kommen: weil sie endlich einmal nicht denken müssen.)
Die Kreativität Übender, ebenso ihre innere Heilkraft, entspringt dem Zustand „nicht denken zu müssen“.
Für den Anfänger, den Fortgeschrittenen, den Lehrer, den Meister, den Trainer, den guru, den ṛṣi (Seher) – für alle – gibt es nur einen Nenner als Übungseinstieg – in ruhigen Stunden, auch wenn es brennt: Der Yogi beobachtet den Atem, er übt kumbhaka, die Atempause.
Nicht die kreativen Bilder und heilsamen Kräfte können gefördert, aber die Situation, in der sie entstehen, kann geübt werden.
Prof. Dr. Jeanne Achterberg sagt in der Einleitung zu ihrem Buch „Die heilende Kraft der Imagination“ (Scherz Verlag):
„Das Erzeugen von visuellen, symbolhaften inneren Bildern mittels unserer Vorstellungskraft – das ist ein Vorgang, der in der Medizin schon immer eine Schlüsselrolle gespielt hat.“
„Das Vorstellungsbild ist eine der Hauptursachen für Krankheit und Gesundheit, es ist das älteste und wichtigste Hilfsmittel im Heilungsprozeß.“
Yoga Nidrā – Der Heilschlaf der Yogis
Zwei Übungen von jeweils 30 Min