Der schwerste Schritt
Der Lotus der menschlichen Gestalt hat vier Blütenblätter in vier Arten, Farben und Größen. Jedem kommt eine bestimmte Bedeutung zu. Das erste Blütenblatt steht für den groben Körper, den die Sinne wahrnehmen. Seine Farbe ist rot. Das zweite steht für den feineren Körper, in dem wir Träume erleben; es ist weiß und von Daumengröße. Das dritte steht für den Kausalkörper; es ist so groß wie eine Fingerspitze und von schwarzer Farbe. Das vierte vertritt den Suprakausal-Körper. Es ist winzig wie ein Senfkorn und seine Farbe ist blau. Das vierte hat die größte Bedeutung. Es ist überaus strahlend und ist der Kernpunkt des ganzen Weges, die höchste innere Schau.
Shri Jnaneshwar, zitiert von Swami Muktananda Paramahansa in „Spiel des Bewußtseins“ Aurum Verlag
Wir machen eine Ausnahme, wir vergleichen, systematisch. Das tun wir sonst nicht. Jedes Thema hat sein eigenes Recht und ist nicht einem Nachbarthema, sondern der Grundidee der Lehre Rechenschaft schuldig.
Ausgerichtet auf diese „Richtung der Rechenschaft“ ergibt sich das Konzept eines Kreislaufs, es entspricht der „vertikalen“ oder „hierarchischen“ Ordnung des Yoga. Anderen Themen, Texten, Vorstellungen und Prinzipien, eigenen oder fremden, schuldet unsere jeweilige Anschauung Respekt, vertritt aber ihre eigene bis zur Auflösung in die nächsthöhere Stufe.
Dieses rund in sich ruhende Verhalten, mit seinem großen Vorbild in den „Acht „Gliedern“ (aṣṭāṅga) der Yoga-Sūtras des Patanjali, begründet unsere Ansicht, anderes Verhalten sei eine Ausnahme.
Der Vergleich, von dem wir reden, bietet sich an mit einem wichtigen Text der Yogalehre, nämlich der Parallele der Blütenblätter Shri Jnaneshwars zu den Stufen des Bewusstseins in der Mandukya Upanishad.
In den Mantras drei bis sieben der Upanishad wird die Bedeutung der Bewusstseinszustände vom Groben bis zum Feinsten – und darüber hinaus – ähnlich beschrieben wie in dem kurzen Text Shri Jnaneshwars.
Der Unterschied besteht in der Lautlichkeit der Upanishad zur Bildhaftigkeit des Jnaneshwar-Textes. Das gleiche Thema wird einmal gesprochen, ein anderes Mal gesehen. Was die Upanishad mit dem Wohlklang ihrer Worte bewirkt, erreicht das Bild der Lotusblüte durch die Schönheit ihrer Gestalt. Was, besonders im siebten Vers der Upanishad, die Kunst sprachlichen Ausdrucks in einer sich rhythmisch steigernden Form zum Ausdruck bringt, vermittelt der Text, mit dem gleichen, hohen Anspruch, durch die Visualisation der dem Wesen des Menschen innewohnenden Farbe „blau“.
In der Praxis der Yogastunde kann der Lehrer, nachdem der Vergleich zur Upanishad dargelegt ist, sehr gut mit der Einprägsamkeit des Textes Jnaneshwars umgehen.
Er wird auf die in der Upanishad gestuften Bewusstseinsformen und auf die für jede Form besondere Art der Achtsamkeit hinweisen.
Er kann die in jeder Stufe unterschiedlichen Korrekturen hervorheben, dann – was unvermeidlich ist – wenn die Achtsamkeit verletzt wurde.
Und er kann viveka praktizieren, das heißt, er kann die Stufen vor einer Vermischung bewahren.
Das erste Blütenblatt: Verletzte körperliche, grobstoffliche Achtsamkeit ist leicht zu beheben. Grob zu grob: Pflaster drauf, Bein geschient, fertig.
Das zweite Blütenblatt, der Traumzustand ist fein, feiner, und erfordert die Überwindung zu feinerem Verhalten: Keine Deutung der Träume, keine (selbst- oder fremdveranstaltete) Analyse der Verletzungen bzw. Fehler.
Stattdessen, das dritte Blütenblatt: Lernen des Stillhaltens in der Besinnungspause. Die hier gemeinte Stille kann der Übende – im Übergang vom herkömmlichen zum yogischen Bewusstsein (dhyānaja citta) – üben. Die Pause ist ein Stillhalten zwischen „seinen“ Tätigkeiten.
Viertes Blütenblatt: Wenn das winzige, das blaue Licht verschwunden ist. Der Übende kann nichts mehr tun, außer „den schwersten Schritt“. Er kann einen Schritt zurücktreten. Nennen wir „den Schritt zurück“ den Schritt zu den Verborgenen Pforten zum Yoga.
Dem Übenden kann nicht entgehen, dass dort, wo wir vom Vergleich sprechen, eigentlich unsere Natur mit ihren Beispielen spielt.
Yoga Nidrā – Der Heilschlaf der Yogis
Zwei Übungen von jeweils 30 Min
The Bhagavad Gita as a Living Experience
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