Pforten, Tore, Türen
Ich bin sicher, Sie würden einen Menschen in Not nicht von
Ihrer Tür weisen und hoffe, ebenso sicher sein zu können,
dass Sie ihn nicht in Ihren Übungsbereich einlassen.
Wir leben in einer gegliederten Welt: Mineralien, Pflanzen, Tiere und Menschen bilden eine aufeinander gestufte Reihe der Entwicklung von Bewusstseinsformen und deren Verkörperungen. Diese Gliederung haben wir nicht erfunden, wir können sie nicht ändern und finden sie wieder in allen Erscheinungsweisen der Natur und in von uns entwickelten Systemen. Es handelt sich dabei um die vertikale, die hierarchische Struktur der Welt. Bei näherer Betrachtung erkennen wir, dass die einzelnen Glieder miteinander verbunden sind und einander bedingen.
Wer dem Weg der Yogis folgt, kennt diese Ordnung aus seiner eigenen Übungserfahrung und aus der Lehre und hat durch ihre Übernahme in den Alltag weniger Mühe in diesem Bereich. Denn so wie es die natürlichen hierarchischen Entwicklungsstufen gibt und, analog dazu, von den Lehrern gesetzte Übungsglieder, gibt es entsprechende soziale Abstufungen.
Der im Raum der Übungen geltende Name für gestufte Ordnung ist aṅga. Name und Sinn lassen sich ohne weiteres auf alle Situationen des Lebens übertragen und erleichtern dort die von uns geforderten Entscheidungen. Gegliedert, schritt- und stufenweise kommen wir besser voran (Reinhold Messner besteigt den Mount Everest fünfzigmeterweise).
Aus unserem sozialen Leben wissen wir, dass die Strukturen der vertikalen Ordnung teil- und/oder versuchsweise aufgelöst worden sind, und dass sich manche Menschen bemühen, solche – vertikale – Gliederungen nicht zu akzeptieren. Diese Versuche haben sich auf nicht-soziale Zusammenhänge, wie zum Beispiel konfessionelle Hierarchien übertragen. Auch der Yoga ist weder im personalen Bereich noch in der Auslegung der Lehre verschont geblieben: man macht „Yogaübungen“, man spricht „Mantras“ und so weiter, ohne Einbindung in atha und iti, den Kreislauf des gesetzten Anfangs und Endes.
Natürlich kennt die Tradition der Yogalehre solche Versuche und hat ihre eigenen Vorkehrungen getroffen, Menschen nicht voreilig sich in Experimente – wie Yogaübungen – zu stürzen, deren Konsequenzen weder sie noch ihre „Lehrer“ ahnen, ihnen aber auf der anderen Seite auch nicht die Tür zum Yogaweg wegen eines Missverständnisses zu verbauen.
Gewissermaßen haben die Lehrer den Zugang zum Yoga hinter dem Yoga versteckt bzw. verborgen. Gibt es für eine Tür ein besseres Versteck als eine Tür? Direkt und auch im übertragenen Sinn haben wir ein gutes Verhältnis zu Türen.
Unter freiem Himmel können wir nicht leben, Tore und Türen verbinden unsere Wohnräume mit den äußeren Räumen der Welt.
Es ist die Grundbeschaffenheit unseres Wesens, des Körpers und des Geistes, Räume zu verbinden. Im körperlichen Bereich spielt die Tür, die so funktioniert, wie wir es wünschen, eine entscheidende Rolle. Wir haben es bei von uns gefertigten Türen in der Hand, wie sie sich öffnen und schließen, nach innen oder nach außen. Und wenn von einer Tür die Rede ist, einem Tor oder einer Pforte, haben wir auch schon ein Bild vor Augen, wie wir mit ihr umgehen.
Bei einem solchem Maß von Vertrautheit liegt es nahe, Vertrauen bei jeder Gelegenheit anzuwenden, auch im geistigen Raum und auch im Yoga. Nur, dieser Versuch misslingt in beiden Fällen, zwar nicht ganz, aber er führt nur an das äußere Tor, das innere öffnet sich nicht in der gewohnten Weise. Ein anderer Stil muss gelernt werden, damit die Tür zum Herz im Herzen, zur Tiefe des Gemüts, zum Yoga im Yoga – sich öffnen kann. Diese Türen öffnen sich von innen nach außen – dem, der anklopft, und dann wach und geduldig wartet. Das Schlüsselwort, mit dem wir im Yoga anklopfen – es ist kein Geheimnis – heißt atha.
Atha weist den in Not geratenen Verstand nicht von der Tür (der Lehre), sondern führt den ganzen Menschen an die Verborgene Pforte von yoga-aṅga und dort Schritt für Schritt in die Höhen und Tiefen seines Wesens.
yoga-aṅga-anuṣṭhānād aśuddhī-kṣaye
jñāna-dīptir ā viveka-khyāteḥ //
(Durch tägliche, nach und nach voranschreitende Einführung in
die Glieder des Yoga-Systems, mit einhergehender Verminderung
und folgendem Verschwinden der Unreinheiten, entsteht die
Erleuchtung des Wissens und entwickelt sich hinauf zum Zustand
der Schau der Unterscheidung)
Yoga-Sutra II,28

Yoga Nidrā – Der Heilschlaf der Yogis
Zwei Übungen von jeweils 30 Min