Ich habe Kopfschmerzen – und erwarte ein Wunder
Man folgt ausgetretenen Pfaden, wenn man sagt: „Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist“. Nur, eigentlich wäre diese Rede, jedenfalls nach der Lehre der Yogis, überhaupt unnötig. Es wäre umgekehrt wirklichkeitsnäher zu sagen: Was geschieht denn ohne ein „Wunder“? Wir haben uns ein Vokabular zurechtgelegt, das so tut, als könne alles erklärbar und verstehbar gemacht werden, wenn auch noch nicht jetzt, aber doch dann, „wenn die Forschung weiter fortgeschritten ist“. Und vorgibt, letzten Endes gibt es gar keine Geheimnisse und keine Wunder mehr.
Vielleicht sind da Bereiche, in der Wirtschaft und in der Technik, wo solche Erwartungen ein gewisses Recht haben; zutreffend einfach deshalb sind, weil man dort die Ziele des Fortschritts selbst bestimmt, diesen vereinfachenden Umstand aber fast vergessen hat.
Ganz anders sieht es aus, wenn wir uns näher stehende Gebiete betrachten, deren Umfang und Größe man zwar auch zu beschreiben versucht, dabei aber bald an Grenzen stößt. Wenn es sich nämlich um unser Wohlbefinden handelt, lassen wir uns von niemand sagen, wie dieses auszusehen hat. Die von den Fachleuten gesetzten Normen – inwieweit zum Beispiel unser Anspruch auf Heilung berechtigt ist – lehnen erwachsene Menschen im Grunde ab. Auch wenn es der sogenannten Vernunft widerspricht, erwarten wir Wunder. Denn wir haben wahrscheinlich niemals ganz verstanden, warum „es zuheilt“, wenn wir uns in den Finger geschnitten haben – und es hat uns das auch noch niemand mit jener Kompetenz zu erklären versucht, bei der das Wissen um den Vorgang mit der Wirkung gleichzusetzen wäre. Anders als in anderen Bereichen der Wissenschaft, wo Berechnungen mit fast einhundertprozentiger Sicherheit angestellt werden können, bleibt in der Heilkunde stets ein großer Spielraum der Ungewissheit – und der Wunder.
Bestritten wird diese Tatsache zwar von niemand, aber Regeln dafür hat auch noch niemand entwickelt. Hier öffnet sich für die Yogapraxis ein weites Feld der Tätigkeit. So wie wir als Yogapraktiker den Methoden der westlichen Schulen Achtung und Respekt zollen, so fordern wir das Gleiche für unsere Art der Betrachtung und Arbeit. Schließlich beruht der Yoga auf einer der ältesten und erfahrensten Wissenschaften, die bekannt sind (leider muss an dieser Stelle der Hinweis wiederholt werden, dass, erstens, was uns heute als Yoga begegnet, kaum etwas mit Yoga zu tun hat, und zweitens, dass der Yoga nicht mit Mitteln westlich fundierten Wissens zu verstehen oder zu praktizieren ist: „Der Yoga wird durch den Yoga erkannt“).
Vyāsas Kommentar zum Yogasūtra III,6:
Der Yoga wird durch den Yoga erkannt.
Der Yoga geht aus dem Yoga hervor.
Wer sich nicht verwirren lässt,
erfeut sich durch Yoga
lange am Yoga.
Wir kommen am ehesten zu einem für alle annehmbaren Bild, wenn wir die Aussage im Titel dieser Betrachtung: „Ich habe Kopfschmerzen“ unter die Lupe nehmen. Da sind der Satzgegenstand „ich“, das Objekt „Kopfschmerzen“ und das Verb „habe“. Ich brauche diese Gliederung, denn der nächste Schritt ist ungewöhnlich – und kaum im Erfahrungsbereich westlicher Heilkunde. Westliche Heilkunde beschäftigt sich mit dem Objekt Kopfschmerz, der Yoga hat mit dem Subjekt Ich zu tun.
Hier schaltet sich sofort westlicher Widerspruch ein und behauptet, als Thema der Psychologie, sehr wohl mit dem Ich, als möglicherweise disponiertem Träger der Schmerzen, zu tun zu haben. Das ist richtig, hat aber mit dem Vorgehen des Yogatherapeuten nichts zu tun. Dieser wird keine Analyse der Ichstruktur des Patienten vornehmen, er wird ihm vielmehr heißen, die vicāra-Frage zu stellen: Wer bin ich? Und er wird das in einer Art und Weise tun, die das gesamte Umfeld dieser Frage, als Basis für die Wirkung der Anweisung, kennt und einbezieht, wozu ein festes und tiefes Verwurzeltsein in der Lehre der Veden und des Yoga notwendig ist. Wissen und Wirken gehen dabei keine getrennten Wege.
„Glauben an Wunder“, wie es oben heißt, ist keine sinnvolle Bezeichnung für den Vorgang. Besser ist die eigene Erfahrung des Prinzips Wunder, einmal im Blick auf das Wunder der Schöpfung und zum anderen als Erlebnis bisher unbekannter Wunder im eigenen Wesen. Gerade diese sind es, die uns „kränken“, wenn sie unerkannt, ja sogar verbannt, darauf warten müssen, ans Tageslicht zu treten. Dass ihr gekränkt sein nicht ohne Folgen bleibt, erlebt der eine Mensch mehr im Kopf, der andere mehr im Bauch – wo auch immer. Die vicāra-Frage, nach den Regeln der Kunst gestellt, lässt die „Wunder“ zu.
Diejenigen, die nach Wundern verlangen,
werden nicht gewahr, daß sie damit der
Natur eine Unterbrechung ihrer Wunder
abverlangen!
Antoine de Rivaro (1753-1801)
Yoga Nidrā – Der Heilschlaf der Yogis
Zwei Übungen von jeweils 30 Min