Wieso werde ich kaum bemerken, dass es mir besser geht?

Frage: Der neue Text „Ihr Arzt“ ist sehr anspruchsvoll, man muss ihn wohl einige Male lesen, bis man wenigstens Fragen stellen kann. Einige Fragen habe ich aber sofort: Wieso werde ich kaum bemerken, wann es mir besser geht?
Antwort: Bemerken spielt sich im Kopf ab. Das Denken hat sich, aus dem Bedürfnis nach Sicherheit, Rituale aufgebaut, die angstbesetzt sind. Sie beeinflussen bei dem Betroffenen die Neutralität des beobachtenden Gemüts und überlagern den Wesenskern, das Selbst. Der Kranke verschließt sich gegenüber der Chance, die sein Zustand – als Gegengewicht – enthält. Der Raum für das Neue ist ihm noch nicht zugänglich, der Schlüssel ist in der Hand „seines Arztes“.

F: „Heilung ist ein Mysterium.“
A: Damit sind Sie aber schon weit in den Text eingedrungen. Wir vertreten hier den Yogastandpunkt – muss ich einmal mehr vorausschicken. Wie wir stellt der Inder R. Sriram die Begriffe „das Profane“ und „das Mystische“ einander gegenüber. Das Wörterbuch gibt Auskunft über die Bedeutung der Worte: profan gleich ungeweiht, weltlich, im Gegensatz zu sakral oder mystisch. Mystik, aus dem griechischen Wort mystikos bzw. myein, die Augen und Lippen schließen. Vereinfacht ausgedrückt: profan gleich machbar, mystisch, gleich nicht machbar aber durch Ergebenheit erlebbar. Beide Faktoren sollten in der Heilkunst eine erkennbar gleichgewichtige Rolle spielen.

F: „In der Hand des Arztes.“
A: Damit kann es etwas problematisch werden. Es kommt darauf an, ob sogenanntes archetypisches Verhalten in der Heilkunst geachtet oder verachtet wird. Yoga jedenfalls bekennt sich zu seinen althergebrachten Wurzeln. Dort gibt es einen Vorgang, der heute zwar angewandt wird, zum Beispiel bei der Akupunktur, den man aber selbst dort nicht beim Namen nennt: das Skarifizieren, gleich Verletzen. Mehr oder weniger ist jede Therapie auch unvermeidbar Verletzung; selbst Kamillentee kennt unerwünschte Nebenwirkungen, von den „Risiken und Nebenwirkungen“ auf den Beipackzetteln moderner Medizin zu schweigen. In der Hand des Arztes sollte dieser Vorgang eine bewusste Rolle spielen. Ein Beispiel: wenn eine – vielleicht gesetzte – Wunde (Körper, Geist, Seele) heilt, wirkt das ansteckend. Heilung hat Mitnahmekraft. Beachtete und gelobte kleine Heilungen können in der Hand des Arztes größere nach sich ziehen. Der ganze Heilkreis des achtgliedrigen Yogaweges, Yogasūtra II,29, beruht auf der Wirkung dieser Weisheit.

Es klingt paradox, aber schon das erste Wort des achtgliedrigen Kreises, ahiṃsa, wörtlich Nicht-Schädigen, Nicht-Verletzen, Gewaltverzicht, wirkt auf manche Menschen, wenn sie sich mit den Auswirkungen vertraut machen, wie eine Verletzung, nämlich ihrer vermeintlichen Rechte (gegenüber der Natur).