Was ist das Hauptanliegen des Lebens?

Jeder kann und sollte die Meditation als Teil seines täglichen Lebens praktizieren, besonders in einer Gesellschaft, in der die unruhigen Aktivitäten und die endlosen Zerstreuungen immerzu von der grundlegenden Wahrheit und sogar von dem Hauptanliegen des Lebens ablenken.

Meditation gibt die Kraft das Leben und seine Aktivitäten mit Abstand und Unabhängigkeit zu betrachten, so dass sie die richtige Bedeutung und ihren wahren Charakter erhalten. Meditation gibt innere Ausgeglichenheit und klare Vorstellungskraft.
Sachindar Kumar Majumdar

Die Worte des großen Lehrers Sachindar Kumar Majumdar standen in der fünften Woche (2006) auf unserem Übungsblatt und waren somit Gegenstand der auslegenden Betrachtung am Anfang des Unterrichts und Inhalt sich anschließender Fragen.

Frage: Was ist das, das Hauptanliegen des Lebens?
Antwort: Dazu muss ich auf das Thema der vergangenen Woche hinweisen. Wir sprachen über das Yoga-Sūtra II.18“.

prakāśa-kriyā-sthiti-śīlaṃ bhūta-indriya-àtmakaṃ
bhoga-apavarga-arthaṃ dṛśyam //

Das Sichtbare besteht aus Elementen und Sinnen, hat den Charakter von Licht, Tätigkeit und Beharrung (und existiert) um der Welterfahrung und Erlösung willen.

Das heißt, bhoga (Welterfahrung) und apavarga (Lösung, Erlösung von dieser Erfahrung), sind die beiden Elemente, die als Einheit das Hauptanliegen des Lebens ausmachen. Sie im Gleichgewicht (51:49) zu halten oder, was viel häufiger notwendig ist, sie wieder ins Gleichgewicht zu bringen, ist Lebenskunst – der Sinn der Meditation.

F.: Kann man Lebenskunst lernen? Manchmal meine ich, sie zu beherrschen, manchmal nicht.
A: Man kann Meditation und Lebenskunst lernen. So wie erst die Einheit von Welterfahrung und Weltüberschreitung Hauptanliegen des Lebens ist, so ist nur das Gemeinsame von „können und nicht können der Lebenskunst“ die Hauptaufgabe unseres Lebens.

F.: Wenn „Gleichgewicht halten oder wieder herstellen“ eine so große Aufgabe ist, gibt es sicher, außer einem gewissen angeborenen Talent dafür, Methoden den Umgang mit dieser Aufgabe zu verbessern und veränderten Umständen anzupassen.
A: Die Schöpfung ist fair genug uns mit viel Talent auf die Reise geschickt zu haben. Aber wie überall gilt für die ganze Strecke der Reise das Gesetz der Polarität, das Ja und das Nein – es gilt die Zweiheit, die erst aus zwei gegensätzlichen Teilen zum Ganzen der Lebenskunst wird. Wachstum, Entwicklung wären nicht möglich, wenn die angeborenen Kräfte allein ausreichen würden das Hauptanliegen und die Hauptaufgabe des Lebens erfüllen zu können.

F.: Und was sind die Methoden Körper, Geist und Gemüt, das Sichtbare, wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
A: Jeder Einzelne kann nur selbst sein täglich neues Gleichgewicht finden. Dazu braucht jeder Mensch Hilfe, Anweisung und Abschirmung. Heilkunde und Meditation und Studium, in den Händen eines Meisters, eines Arztes, eines Lehrers sind die besten Methoden zu sich ständig erneuernder, ausgewogener Gesundheit und Freude zu finden. Yoga-Sūtra II.,1* faßt zusammen:

tapah-svādhyāya-īśvarapraṇidhānāni krīyā yogaḥ
Übung, eigenes Studium und Hingabe an den HERRN
(bilden den) Yoga der (heiligen und heilenden) Handlungen.

F.: Bitte sagen Sie noch etwas zu dem Begriff „das Sichtbare“ aus Sūtra II,18.
A: Es entspricht nicht unserem Denkstil ein Wort so umfassend zu verstehen wie es hier gemeint ist. Der Umgang mit dem Yoga-Sūtra übt uns jedoch darin, von einem Wort nicht nur den gängigen, oberflächlichen, sondern auch den tatsächlichen, tieferen Sinn zu erfassen. Mit „sichtbar“ ist einfach alles gemeint was sichtbar ist. Obwohl der Text der Sūtras knapp gehalten ist, werden in diesem Fall die Bestandteile des Sichtbaren beim Namen genannt: Licht, Tätigkeit, Beharrung. Mehr ist nirgendwo sichtbar.

F.: Noch eine Frage. Wie verhalten sich meine vielen anderen Anliegen zum Hauptanliegen.
A: Gegenfrage: Gibt es die denn wirklich? Was gibt es außerhalb von Welterfahrung und deren Überschreitung? Dass wir unsere vielen Anliegen vom Hauptanliegen abgelöst haben und es dadurch fast nicht mehr kennen, ist ja gerade unser Problem.

F.: Das heißt also, dass ich mir bei allem was geschieht und was ich tue darüber im Klaren sein sollte, dass alles ein Teil des Ganzen ist.
A: So ist es.

F: Wie Sie das jetzt betrachten ist es einfach und deutlich. Im Alltagsgetriebe geht aber leider oft beides, Anliegen und Aufgabe, verloren.
A: Die Motive für unser Alltagstun sind meist nicht spontan, sondern – etwas hart ausgedrückt – fremdbestimmt und eher zwanghaft. Sie uns trotzdem zu Eigen zu machen ist die eine lohnende Aufgabe. Die andere ist, in der Meditation aufmerksam zu sein: gültige Anweisungen finden in der meditativen Situation ihre Verwandlung in ein spontanes Heilungsritual.

*Aus Helmuth Maldoner YOGA SUTRA
Der Yogaleitfaden des Patañjali, Raja Verlag