Verständnistechnik
Frage: „Solange westlich orientierte Studiermethoden als Lernstil herangezogen werden – und das ist wahrscheinlich immer dann der Fall, wenn nicht deutlich auf eine andere Verständnistechnik hingewiesen wird -, ist ein sinnvoller Umgang mit den Yoga-Sütras weder mit noch ohne Interpretation möglich.“ Dieser Satz auf der Internet-Seite „So fängt der Yoga“ an (www.yoga-direkt.de) lässt mich nicht mehr ruhig schlafen. Besonders das Wort „Verständnistechnik“ beschäftigt mich, ich habe dieses Wort noch nie vorher gehört. Was ist damit gemeint? Gibt es unterschiedliche Techniken“ etwas zu verstehen? Ich kann mir gut vorstellen, dass es verschiedene Methoden gibt, aktiv etwas „verständlich zu machen“, aber gibt es ein solches Verfahren auch im passiven bzw. rezeptiv wirksamen Sinn?
Antwort: So fragt nur jemand der eigenständig geworden ist. Von der Schule, der frühen Erziehung her, schleppen wir alle noch immer die Merkmale „verstanden“/“nicht-verstanden“ mit uns herum. Gemeint damit war damals das „Verstanden-haben“/“Nicht-verstandenhaben“ des Wissens oder der Meinung anderer. Und weil es besser war verstanden-zu-haben was der Lehrer, die Eltern usw. sagten, hat sich dieses Verhalten tief in uns eingeprägt. Wir haben Wissen und Meinungen anderer auch dann übernommen, wenn wir im Grunde nichts wirklich verstanden haben oder – schlimmer noch – zwar verstanden haben was gemeint war, aber mit dem Inhalt nicht einig waren.
Für viele Menschen hängt auch heute noch das Schicksal ihrer beruflichen, gesellschaftlichen, oft sogar das ihrer gesundheitlichen Entwicklung mit der Haltung der Übernahme fremder Ideen zusammen. Zu welchen Ergebnissen diese Haltung hier zu Lande führt, hat uns – hoffentlich – die Pisa-Studie deutlich gemacht. Es gibt in Deutschland mehr als einen Landstrich dessen Bewohner als „Tüftler und Denker“, also als Menschen mit ausgeprägtem Spürsinn für Wahrheiten und Möglichkeiten bezeichnet werden. Diese Menschen brauchen zwar auch ein gerütteltes Maß an allgemeingültigem Wissen, noch mehr aber Raum, Spiel- und Resonanzraum, für die kreativen Formen der Intelligenz.
F: Ich weiß, was Sie sagen wollen und stimme auch insoweit zu, aber wie steht der Yoga zu meiner Frage: Was kann ich tun, um mehr „Verständnis“, mehr „Verstehen“ zu entwickeln, gibt es tatsächlich eine Technik?
A: Ich wollte nur etwas weiter ausholen, um nicht sofort mit der vielleicht drastisch klingenden Methode und ihren Zusammenhängen zu beginnen. Yoga geht immer gestufte Wege. Der erste „handwerkliche“ Schritt „zu verstehen“ ist einfach zu beschreiben, aber leider nicht so einfach zu praktizieren: Er heißt Zuhören. Zuhören, was ein anderer sagt, ohne gedanklich darauf etwas zu erwidern.
Diese Haltung erfordert Respekt und lange, geduldige Übung. Hier soll vom nächsten Schritt die Rede sein, dieser setzt jedoch Erfolg im ersten zwingend voraus. Denn es geht noch einmal um das Zuhören. Nun aber nicht mehr auf eine äußere, sondern die Wahrnehmung der eigenen, inneren Stimme. Weil in diesem Bereich kaum Erfahrung besteht und viel Unsinn zustande kommen kann, legt der Yoga hier strenge Maßstäbe an. Ein Dialog, gewissermaßen mit sich selbst, ist erforderlich. Dafür muss aber zuerst das Verhältnis zwischen den Dialogpartnern, dem fragenden „Ich“ und dem antwortenden „Selbst geklärt werden. Das ist ein Vorgang der im Yoga Grundlage für alle weiteren Betrachtungen ist, in der westlichen Terminologie und Praxis so aber gar nicht vorkommt.
Für den Yogaübenden ist der Unterschied zwischen der „Ich“- und der „Selbst ebene schon durch ihre unterschiedliche Bezeichnung (verkürzt ausgedrückt: aham für das persönliche Ich und ātman für das unvergängliche Selbst) ausreichend geklärt. Einem solchen Verständnis wiederum geht die grundsätzliche Akzeptanz der Lehre voraus, und noch mehr: gerade dieses Verhältnis – samt seinen Konsequenzen – ist es, das den ganzen Yoga ausmacht.
Die Antwort auf Ihre Frage nach der Technik „zu Verstehen“ hat also essentiellen Charakter und berührt das Mittelstück der Yogalehre schlechthin. „Verstehen“ hat immer etwas grundsätzliches an sich. Man kann einen Baum nicht wirklich kennen, ohne das ihn bewirkende Prinzip des „Bäumens“ an sich selbst zu erleben. Verstehen ist eine Bewegung hin zur Identität mit dem Gesehenen oder Gehörtem, ein Schritt zur Aufhebung der Trennung. Ein solcher Schritt wäre – um zu Ihrer Frage zurückzukommen – sich selbst beim Rezitieren des „a“ und des „atha“ zuzuhören.
Wenn ich noch etwas hinzufügen darf. All das Gesagte ist im Yoga im ganz normalen und schlichten Üben enthalten.
Beim Üben im Yoga entwickelt sich außer der Fähigkeit zu verstehen“ auch die Ergänzung: „Sich verständlich zu machen“. Und zwar ganz von selbst.