śauca
im Blickfeld des ersten (samādhi-pāda)
und zweiten Kapitels (sādhana-pāda) der
Yoga-Sūtras
Andächtig sitzt die Frau vor dem Śiva-Schrein.
Der Priester tritt auf sie zu und ermahnt sie, ihre Beine mögen
nicht in die Richtung von Śiva zeigen.
Erschrocken schaut sich die Frau um und fragt,
wo denn in diesem Raum Śiva nicht sei.
Aufmerksam legt der Besucher die Sandalen ab
und wäscht seine Füße, bevor er das Innere
des Tempels betritt.
Wenn man Beispiele heranziehen will, kann man den Unterschied zwischen samādhi-pāda, dem ersten Kapitel der Yoga-Sūtras, und sādhana-pāda, dem zweiten, nicht besser beschreiben.
Übende begegnen śauca, Reinheit, als einer Pforte auf dem Weg zum Yoga in unterschiedlicher Weise. Die einen sagen: „Ich bin rein“, die anderen beginnen mit dem Reinigungsritual schon vor dem Tor.
Die Haltung gegenüber śauca ist ein Merkmal bei der Unterscheidung zwischen den im ersten und zweiten Kapitel der Yoga-Sūtras des Patanjali beschriebenen Yogawegen.
Die pādas, die Säulen bzw. Kapitel der Yoga-Sūtras zeigen jeweils einen anderen Zugang zur Lehre. Das erste Kapitel kennt keine Methode, das zweite Kapitel ist Methode.
Das erste Kapitel kennt keine Methode, es sei denn, man will die dort geforderte Disziplin, die allerdings für alle Wege gilt und oft auch als Konzentration oder „Achtsamkeit – auf das, was ist“ bezeichnet wird, eine Methode nennen.
Sūtra (1,12):
abhyãsa-vairāgyābbyāṃ tan-nirodhaḥ
(Die Stilllegung der [citta-vṛttis] erreicht man durch Übung und
Leidenschaftslosigkeit.)
Das erste Kapitel beschreibt die Eigenschaften des „von selbst geschehenden“ Yoga und nennt keine formulierten Übungen. Dieser Yoga setzt – im Prinzip – die Lehre dem Leben gleich. Für diesen Yoga ist alles Übung, ist alles auf nirodha, die nicht vermeidbare Finalität, als der eigentlichen Idee des Lebens und des Yoga, gerichtet. Weil viele – im Grunde alle – Menschen zwar im Bereich von samādhi-pāda leben, aber doch meinen, außer Andacht noch etwas mehr zu ihrem Seelenheil beitragen zu müssen, gibt es den Weg des zweiten Kapitels: sādhana-pāda.
Im Gegensatz zu samādhi-pāda legt sādhana-pāda genau beschriebene Übungen vor.
Sūtra II,1 lautet:
tapaḥ-svādhyāya-īśvarapraṇidhānāni kriyā-yogaḥ
(Askese, eigenes Studium und Hingabe an den Herrn bilden
den Yoga der heiligen Handlungen.)
Während Erkenntnis in samādhi-pāda mit dem, was in der Medizin als Sekundenphänomen bezeichnet wird, verglichen werden kann, verläuft das Betreten des zweiten Weges – im Verlauf von drei mal sieben Jahren – eher einschleichend. Dieser Weg wird auch kriyā-yoga, der Weg der heiligen – und von dort her – heilenden Handlungen, genannt.
Sūtra II,28 drückt es so aus:
yoga-aṅga-anuṣṭhānād-aśuddhi-kṣaye jñāna-dīptir ā viveka-khyāteh
(Durch tägliche, nach und nach voranschreitende Einführung in
die Glieder des Yoga-Systems, mit einhergehender Verminderung
und folgendem Verschwinden der Unreinheiten, entsteht die Erleuchtung
des Wissens und entwickelt sich hinauf zum Zustand der Schau der Unterscheidung.)
Anmerkung: Unterscheidung – zwischen dem, was vergänglich, und dem, was nicht vergänglich ist.
Anschließend, in Sūtra II,29, folgt die Beschreibung
der einzuhaltenden Übungen:
yama-niyama-āsana-prāṇāyāma-dhāraṇā-dhyāna-samādhayo’ṣṭāv aṅgāni
(allgemeine/äußere Ordnung, besondere/innere Ordnung, rechte Sitzhaltung,
Atem-Achtsamkeit, Zurückziehen der Sinne, Sammlung, reine Beobachtung,
Einssein sind die acht Glieder des Yoga.)
Hier sind die Übungen festgelegt. Wäre dem nicht so, würde die Forderung durch wiederholte, tägliche, sukzessive Einführung in die Glieder des Yoga-Systems nicht erfüllt. Dieser Weg erlaubt keine Spielräume, die einzelnen Glieder im Yoga-Sūtra II,29 können zwar unterschiedlich stark betont werden, müssen aber in ihrer Reihenfolge bleiben. Eine Ausnahme: Der Yoga der acht Glieder erlaubt den Einstieg bei der dritten Stufe, bei āsana.
Śauca, als Pforte zum Yoga, ist keine Situation für sich selbst, sie ist Voraussetzung für saṃtoṣa, Zufriedenheit, und die weiteren Merkmale des Weges.
Sũtra II,32:
śauca-saṃtoṣa-tapaḥ-svādhyāya-īśvarapraṇidhānāni niyamāḥ
(Innere und äußere Reinheit, Zufriedenheit, Askese, Selbststudium und Hingabe an den Herrn sind die Regeln der inneren Disziplin.)
Yoga Nidrā – Der Heilschlaf der Yogis
Zwei Übungen von jeweils 30 Min