Fährten lesen, Fährten legen
Sage es mir, und ich vergesse es;
zeige es mir, und ich erinnere mich;
lasse es mich tun und ich behalte es.
Konfuzius
Obwohl ich eigentlich damit aufgewachsen bin, Düfte, besonders von Kräutern, wahrzunehmen, habe ich gestern den Geruch von Rosmarin nicht erkannt. Mit anderen Erinnerungen geht es mir ähnlich: In Englisch, einer Sprache, in der ich eine Diplomarbeit geschrieben habe, fehlen mir gelegentlich die Worte. Menschen, Freunde früherer Jahre, beim vollen Namen zu nennen, geht nur langsam, manchmal gar nicht. Diese Liste würde lang, kennt aber eine Ausnahme: das Morsealphabet. Ohne Probleme, ohne eine Sekunde nachzudenken entsteht das Wort im Morsetakt: da da, da da da, dit da dit, dit dit dit, dit, da, dit da, da dit da, da. Und es ist schon sehr lange her – über sechzig Jahre – dass ich das gelernt und inzwischen kaum gebraucht habe.
Die Spuren, die unsere Erlebnisse hinterlassen, besitzen recht unterschiedlichen Charakter. Welche Tiefe sie erreichen, hängt von den Umständen des Erlebens ab. Handelt es sich um bewusstes Lernen, spielt die didaktische Methode die entscheidende Rolle. Beim Morsen kann man sich nicht überlegen, wie das Signal heißt; grob ausgedrückt, der Weg geht vom Ohr direkt in den Bleistift (wieder erkannt habe ich diesen Lernstil im Yoga: Die Ansage der Übung geht unmittelbar vom Ohr in die Arme oder Beine). Wenn wir uns erinnern oder erinnert werden, erkennen wir eine große Vielzahl von Spuren, die in unserem Gemüt Raum gefunden haben. Nehmen wir uns dann auch noch Zeit zur Besinnung, erkennen wir sogar eine Staffelung, eine Rangordnung der Gravuren. Von flüchtig über interessant bis hin zu notwendig und überlebensnotwendig hat sich eine ganze Hierarchie von Eindrücken aufgebaut.
Der Yogaübende wird durch das Unterrichtssystem der Schule ganz bewusst an diesen Punkt der Besinnung geführt. Die Schätze, auch die Schmerzen, die in seinem Gemüt ruhen, nehmen Gestalt und Form an. Manche Erinnerungen verdichten sich zu regelrechten Pfaden. Wege und Verlaufsformen, die ihren Anfang nicht im Beginn unserer physischen Existenz haben, werden deutlich. Nach ihnen zu suchen, sie aufstöbern zu wollen, schlägt fehl. Aber in der besinnlichen Ruhe einer Yogahaltung erwachen die Erinnerungen von selbst zu neuem Leben. Bei der Baumhaltung melden sich starke vegetative Kräfte. Kraftströme, die, wie im Baum des Waldes, von der tiefsten Wurzelspitze bis hinauf in das dem Himmel nahe Blattwerk kreisen. Die Technik der Identifizierung mit dem baumhaften, dem sich bäumenden Element in unserer Menschengestalt hat der Übende von Anfang an gelernt. Eine Fährte in die Tiefe unseres Wesens hat sich aufgetan.
Unsere Lehrer haben solche Fährten für uns ausgelegt. Sie haben die Yogaübungen in der Weise beschrieben, dass sie zur Erkenntnis unseres wahren Wesens führen. Schritt für Schritt den Übungsweg einzuhalten und dabei – das ist sein schwerster Teil – keine Spekulation aufkommen zu lassen, keine eigenmächtige Suche zu veranstalten, keiner Versuchung, etwas Bestimmtes erreichen zu wollen, nachzugeben, ist die einzige Forderung auf dem Weg. Die Fährte ist uns gelegt worden.
Zug um Zug erleben wir erneut den Duft und die Wirkung der Kräuter, den Sinn der Sprache und der Gedanken, deren Ausdruck unser gröberer und unser feinerer Körper ist.
Die individuellen, oft quälenden Erinnerungen, die die Yogis smrti nennen, lösen sich auf in sruti, die spirituellen, heilsamen Wahrheiten.