Der Ton und die Töne

In Yogakreisen kursiert eine Anekdote
(wiedererzählt von Dr. Eckhard Wolz-Gottwald
im Yoga-Forum Nr. 6/2000):
Eine junge Frau heiratet einen Cellisten,
der den ganzen Tag lang zu Hause übt,
jedoch immer nur denselben Ton.
Geduldig erträgt die Frau
es fünfzig Jahre lang. Eines Abends,
nach einem Hauskonzert, auf dem
viele begabte Musiker spielten,
fragt sie ihren Mann:
„Warum spielen die anderen so
viele verschiedene Töne, und du
spielst immer nur den einen Ton?“
– „Ich nehme an“, entgegnet er,
„die anderen haben ihren Ton
noch nicht gefunden.“

Die Anekdote dient Dr. Wolz-Gottwald zur Einführung in ein schwieriges Thema und ist in diesem Zusammenhang sehr gut gewählt.

Uns geht es um einen anderen Aspekt. Die Arbeitsweise unserer Schule weicht in wesentlichen Zügen vom Vorgehen anderer Schulen ab. Deshalb nutzen wir alle sich bietenden Gelegenheiten, dem am Yoga interessierten Publikum zu sagen, wie wir unseren Stil verstehen. Am Bild des Tones und der Töne lässt sich unsere Methode gut darstellen.

Wenn wir sagen, der Yoga in der heutigen Zeit und in der westlichen Welt werde kaum von seinen klassischen vedischen Vorgaben, der dvaita– bzw. advaita-Lehre her verstanden, dann müssen wir etwas Verständliches zur Verfügung haben.

Die spätere Lehre des Shri Krishna Chaitanya (1485-1533) kann uns die erwünschte Hilfe leisten. Seine Formel acintya-bhedābheda-tattva klingt zwar für unsere Ohren ziemlich fremd, ist aber mit etwas gutem Willen als „sowohl als auch“ ganz brauchbar zu übersetzen, zumal dann, wenn noch ein Beispiel (siehe oben: der Ton und die Töne) dabei Hilfe leistet. Der Übungsansatz unserer Schule zielt auf das Erlebnis der Identität mit dem einen Ton und benützt die āsanas (und andere Übungsformen) zum Erkennen der – vorläufigen – Identität mit der Vielzahl aller Töne. In beiden Fällen dient die Identifizierung wiederum nur zu ihrer eigenen Überschreitung.