Amplitude – Betrachtungen zum Thema Kraft

Die Schaukel schwingt nach hinten ebenso weit
wie nach vorn.

Wir verstehen uns doch richtig? Es geht um die Reichweite, die Schwingungsweite der Kraft. Kraft schwingt: nach oben und nach unten, nach vorn und nach hinten.

Kraft wirkt segensreich und zerstörend. Und es geht darum zu fragen, wessen Kraft es ist die schwingt. Yogaübende hören von ihrem Lehrer: „Wenn Sie meditieren, eine Stunde lang still und gerade sitzen wollen, sollten Sie das nicht können.“ „Sie sollen lernen, es nicht mit Ihrer Kraft zu können.“ „Versuchen Sie es dennoch, sind neuer Krampf, neue Verspannung und Frust die unvermeidlichen Folgen. Es sind die gleichen Unstimmigkeiten, die Sie sich schon immer eingehandelt hatten, weil Sie ständig etwas mussten oder wollten.“ Und: „Die Erfahrung, es gibt andere als die Ihnen persönlich verfügbaren Kräfte, bliebe aus.“

Die Übung:
Der Yogi beginnt niemals mit Meditation, auch dann nicht, wenn „Meditation“ auf dem Programm steht. (Hier haben wir ein gutes Beispiel für ein geliehenes Wort.) Der Yogi beginnt mit āsana und benützt den Paternoster. Manche nennen dieses nützliche Verkehrsmittel auch aṣṭāṅga.

Die Lehre:
Der Yogi lernt viveka, die Kunst der Unterscheidung. Er lernt zu unterscheiden zwischen seiner Kraft, der Kraft, über die er verfügen kann, und der anderen, der Kraft des „inneren Meisters“. Er lernt, wie weit seine Kräfte gehen, auch, wie weit er diese – seine Kräfte – übungsmäßig überziehen darf und soll, und wann – nunmehr bewusst – Unstimmigkeiten beginnen. Er kann gar nicht weiter gehen: Sein hellwaches Bewusstsein sitzt im Paternoster und durchwandert alle Felder der Kraft (cakras), auch die, die dem Ich-Sinn nicht zugänglich sind.

Die Praxis:
Überall wirkt Kraft, so genannte positive und so genannte negative Kraft, ihr Verhältnis zueinander ist immer ausgewogen: so hoch die Berge, so tief die Täler. Dieses Raster hat der Yogi bei seinen Übungen kennengelernt, und was er im Miniformat auf der Matte gelernt hat, gilt für ihn nun auch im großen Maßstab: bei allen Erscheinungen und Vorgängen dieser Welt. Der Yogi lernt die Anwendung des Wortes „Kraft“ auf die, nur wegen ihrer verschiedenen Erscheinungsweisen, unterschiedlich benannten Kräfte – Nervenkraft, Verdauungskraft, Muskelkraft, Kraft der Liebe, Kraft des Verstandes, Kraft der Unterscheidung und so weiter – kennen.

Einige Spielarten der einen grundsätzlichen Kraft nennt der Yogi beim Namen: rāja, jñāna, bhakti, karma, nāda, nidrā. Aber er geht nicht zu tief in die Verzweigung – nahe der Mitte ist die Bündelung, auch ohne Eskalation, ohne hohe/tiefe Amplitude am wirksamsten. Hier ist es am einfachsten, auch die andere Schwungrichtung der Schaukel zuzulassen. Schließlich, die Einsicht (und Aufgabe): Kraft pendelt gar nicht. Kraft dreht sich – als vrtti – im Kreis.