Tante Emma

Schräg gegenüber war ihr Laden. Es gab nicht nur Zucker und Salz, Heftpflaster, Kaugummi und Südfrüchte, das beste Stück im Haus stand mitten auf der Theke: eine Waage. Die wollte zwar niemand kaufen, aber gesehen hat sie jeder. Rechts und links die Wiegeschalen, eine für die Ware, die andere für die Gewichte. Und in der Mitte der Ort der Ausgewogenheit, ja der Gerechtigkeit, der Zünglein – eines auf jeder Seite – an der Waage. Gerechtigkeit war hergestellt, wenn das Spiel zwischen den ungleichen Partnern rechts und links einigermaßen ausgeglichen war. Toleranz war nötig, aber in Grenzen.

Schade, dass es Tante Emma und ihre Waage – auf der Schaufläche des täglichen Geschehens – nicht mehr gibt. Schade, dass sich der machbare Ausgleich nicht mehr vor aller Augen abspielt. Einfache Muster wirken weiter

Anlässe für (Konflikt)-Ausgleich gibt es genug, eigentlich überall. Aber den Betroffenen fehlt ein Modell für die geschickte und tolerante Handhabung der ausgleichenden Faktoren. Direkt, am Ort des Geschehens, hat Ausgleich noch niemals funktioniert.

Die Yogalehre heilt nicht vor Ort. Ihre Exerzitien, das sind weit mehr als die Yogaübungen, bedienen sich schlichter, unwiderstehlicher Exempel. Sie appellieren mit ihrer eigenen Sprache an tief im Gemüt ruhende Archetypen. Sind diese vitalen Kräfte erst einmal zum Leben erweckt, bahnen sie sich ihre Wege selbst zum Ort des Bedarfs.

Zu den Exerzitien gehören ihre eigenen Regeln. Zum Beispiel der Ausgleich zwischen raga und dvesa, dem Wechselspiel von Zuneigung und Abneigung (Yoga-Sutra II,2). Die Lehrer haben erkannt, dass niemand, weder der Einzelne noch die Gesellschaft, die Steigerungsformen dieser in jedem Wesen vorhandenen Anlagen, steuern oder gar beherrschen kann. Weil sich aber unser ganzes Leben auf allen Ebenen als gesteigerte Zuneigung für dieses und eskalierte Abneigung gegen jenes abspielt, haben die Lehrer die Übungen, durch Bildung von wirksamen Mustern, auf die Basisstufe gelegt.

Basisfunktionen des Lebens, wie der Atem, können Zünglein an der Waage sein. Voraussetzung ist nur dieses: „Wir lassen den Atem Meister sein“. Das sagen wir und fügen hinzu: „Wen sonst?“

Damit sich die rechte und linke Waagschale ausgleichen, bedarf es der Hilfe von Tante Emma nicht mehr, diese Aufgabe hat der wachsame Beobachter in jedem der übt übernommen.