Ein Stein
Es war Anfang der siebziger Jahre bei einem Yoga-Wochenende in Wißgoldingen. Das Wetter war schön, die tägliche Frage- und Antwortstunde hatten wir ins Freie verlegt. Wir saßen neben der Reiterles-Kapelle auf einer Bank rund um einen Baum.
Frage von Frau He. „Sie sagen, Yoga sei ein Retourweg, ein Weg zurück, kein Aufbauweg. Und wohin zurück, ist mir das Ziel bekannt?“
Es war schon damals so, dass der Yoga öffentlich als „nützlich“ und „aufbauend“ angepriesen wurde. Meine Schüler waren zwar weitgehend gegen solche Vereinfachungen gefeit – wir hatten dafür sogar ein ausgefallenes Wort, „utilisieren“, gewählt – aber gelegentlich kamen doch Zweifel auf. Außerdem musssten sie ja zu Hause und am Arbeitsplatz Rede und Antwort stehen. An jenem Tag, am Fuße des Kalten Feldes, war es wieder einmal so weit. Mir kamen Fragen, die sich direkt auf Yoga bezogen, sehr gelegen, speziell wenn sie offen, vielleicht sogar etwas angriffslustig gestellt wurden.
Beides traf bei Frau Hes. Frage zu. Sie hatte schon einige Zeit regelmäßig geübt und sie stellte wohlüberlegte Fragen. Bei ihrem heutigen Thema kam mir der Standort – unter freiem Himmel – zu Hilfe: Ich trat ein paar Schritte zurück, nahm einen Stein und warf ihn in die Luft. Als der Stein wieder am Boden lag, wusste niemand so recht, was gemeint war. Die Ratlosigkeit dauerte jedoch nicht lange, denn zweierlei hatte der Weg des Steins gezeigt: Wo der Yoga beginnt, und – dass es zur „Yogasituation“ keine Alternative gibt.
Wie der Weg des Steines verlief, verlaufen alle Wege – ohne Alternative. Der einzige Unterschied zum Modellsteinwurf ist der, dass Steine und andere Erscheinungen nicht von Menschen, sondern von höherer Kraft auf den Weg ihrer Entfaltung geschickt werden. In diese, die Entfaltungsstrecke des Weges – die sich ja deutlich mit jedem Ein-Atemzug wiederholt -, mischt sich der Yoga nicht ein, seine Zuständigkeit beginnt am Umkehrpunkt der Bahn. Yoga ist ein anderes Wort für Schluss, für Ende, für den Kreisschluss eines Weges (nicht zu verwechseln mit unserem wahren Sein): yogaś citta-vṛtti-nirodhah. „Yoga ist das Ende des denkenden Gemüts“, und ist somit das Ende aller durch dieses denkende Gemüt wahrgenommenen Erscheinungen. (Der Yogi stellt die Frage: „Woher können wir – innerhalb des denkenden Gemüts wissen, was es außerhalb des denkenden Gemüts gibt?) Wie es dem einen Stein geschah, geschieht es allen Steinen und auch allen anderen Erscheinungsweisen, den Gedanken und Gefühlen, den Werken des Herrn und unseren Werken. Und auch unseren Leibern. Wahrheiten sind einfach: Der Physiker Einstein brauchte nur fünf Zeichen um eine Wahrheit seiner Disziplin zu zeigen, im Yoga brauchen wir nur einen Stein.
Frau He. war zunächst still, nahm dann aber etwas zögernd einen neuen Anlauf (für den ich ihr sehr dankbar war). Sie fragte: „Klingt das nicht recht nihilistisch, so als ob gar nichts geschehen würde, als ob alles vergebens wäre?“ Der Lehrer: „Ja, so ist es – wenn man den Blick nach außen richtet; blickt man aber nach innen, erlebt man – gerade deshalb – die Wahrheit, die uns die Yogis sagen. In ihren Worten: sat cit ānanda, (die Ewigkeit von) Sein, Wissen, Wonne. Sie sagen: tad tvam asi, das bist du. Das ist das Ziel – und wir kennen es alle.“