Das Übungsblatt
Von manchen – zum Beispiel von mir – wird es wie eine Art Reliquie behandelt. Ich habe noch das erste, das ich von meinem Lehrer erhalten habe. Auch die nachfolgenden habe ich über all die vielen Jahre gut aufbewahrt.
Wie ein Mensch gegenüber einem solchen, ja eigentlich banalen Ding eingestellt ist, hängt nicht von sachlichen, sondern von gefühlsmäßigen Zusammenhängen ab. Diese wiederum gründen eher in tieferen Schichten als dort, wo Tun oder Lassen in der eigenen Hand liegen.
Diese Betrachtung halte ich für angemessen. Es gibt im westlichen Yoga-Bereich kein anderes an Wert und Bedeutung dem Übungsblatt vergleichbares und offen zugängliches Yoga-Instrument wie dieses – die gesamte Yoga-Literatur eingeschlossen. Das Übungsblatt vermittelt den direkten Kontakt zur Yoga-Schule, zum Yoga-Lehrer, zu den Yoga-Lehrern der eigenen Yoga-Richtung und erfüllt damit eine der wenigen unerlässlichen Voraussetzungen für sinnvolles Üben, nämlich das tägliche Nachüben zu Hause.
Das Übungsblatt entstand in der Yoga-Schule von Selvarajan Yesudian und Elisabeth Haich. Mein Lehrer, Herbert Hildebrand, hatte es übernommen und wir haben ab 1967 die Herausgabe fast unverändert fortgesetzt. Jede Woche erscheint ein neues Blatt mit einer neuen Übungsfolge. Allein in unserer Schule gibt es inzwischen über 1500 Übungsblätter. Nach uns haben unsere Schüler in ihren eigenen Schulen die Tradition weitergeführt.
Sinn des Übungsblattes ist es, dem Übenden ein Programm für das tägliche eigene Üben zu geben. Auf dem Blatt stehen die Übungen der „Wochenstunde unter Anleitung“ und sind somit das Programm bis zur nächsten Wochenstunde. Die Übungen sollen in ihrer Art, ihrer Reihenfolge und ihrer Ansage im Wesentlichen beibehalten werden. Dabei sind Abweichungen, zur Betonung bestimmter Übungen oder wegen gelegentlichem Zeitmangel, selten sinnvoll, aber nicht unmöglich.
In der Biographie von Swami Vivekananda haben wir gelesen, wie wir mit einem Text umgehen können. Von Vivekananda sagt man, er sei in Sekunden darüber informiert gewesen, was auf einer Buchseite geschrieben stand. Er hat den Text innerlich „fotografiert“. Ähnliches erwarten wir von unseren Schülern: Das Blatt kurz ansehen und nach dem so „fotografierten“ Inhalt üben – unter bewusster Hinnahme von möglichen Fehlern. (Gemunkelt wurde, dass es Teilnehmer gegeben hat, die zum „Yoga“ gekommen sind, um diese Technik zu lernen.)
Oben auf dem Übungsblatt steht ein Text. Er stammt aus der eigenen, häufiger aus der Feder anderer. Yesudian schuf durch den Umgang mit diesem Text einen Brückenschlag zwischen dem alltagsbezogenen und dem übungsgerichteten Stil unseres Denkens. Bei uns wird der Text gelesen und ausgelegt. Yogagemäß kommt es dabei mehr auf das Wie des Lesens als auf das Was der Auslegung an. Die Stimme des Lehrers stimmt sich ein auf die Führung durch die Stunde. Auf die Übenden hat das eine stark „ansteckende“ Wirkung.
Außer der Betonung des klanglichen Elements bei der Einstimmung hat der Lehrer Gelegenheit in seinen Ausführungen Grundelemente der Yoga-Lehre aufzugreifen. Er wird so ziemlich jedes Thema mit der Tatsache verknüpfen, dass im Yoga Probleme nicht behoben werden können, ohne die sogenannte vicāra-Frage „Wer bin ich?“ (Sri Ramana) zu stellen. Für die Behandlung seines Themas hat der Lehrer etwa zehn bis fünfzehn Minuten Zeit.
Dann kommen die Übungen. Zuerst śavāsana, eine geführte Entspannung mit Durchwandern des Körpers. Dann die von Yesudian pūrna prāṇāyāma und jālandhara bandha genannten, an westliche Atemübungen erinnernden Praktiken, mit deren Einrichtung ihm ein wahres Meisterstück der Überleitung von westlicher in yogische Sichtweise gelungen ist. Bei der Ansage dieser Übungen hat es der Lehrer in der Hand, die unvermeidlich mitgebrachte Absicht der Übenden, Wirkungen zu erlernen, in Achtsamkeit und Hingabe umzuwandeln.
Die Übenden sind nun bereit im Yoga-Stil Körperhaltungen (āsanas) einzunehmen. Die einzelnen, auf dem Übungsblatt verzeichneten Übungen, werden drei Mal hintereinander, mit bei jedem Durchgang erneuter, präziser Ansage (als wäre es das allererste Mal) auch denen angewiesen, die die Übungen schon seit Jahrzehnten kennen. Diese Technik gewährleistet zuerst eine fast spielerische Beherrschung der Übung; zudem – in ihrem weiteren Ablauf – die Überschreitung dieser ja zwangsläufig ichhaften Beherrschung samt der Tendenz zur Weitergabe an andere.
Zusagen wäre noch, dass Raum und Zeit eingeräumt werden müssen, die Übungen zunächst zu ihrer imaginativen Entfaltung kommen zu lassen, bevor die körperliche Form folgen kann. Jede Übung beschreibt einen in sich geschlossenen Kreis und ist mit dem Kreisschluss, das ist die Rückkehr in die Atemmitte, ohne Nachsinnen beendet. Die zur Übung gehörende Bekräftigungsformel ist in abgekürzter Form auf dem Übungsblatt vermerkt. Aus einer Gesamtzahl von etwa einhundert stehen meist acht wechselnde Übungen auf dem Blatt. Als letzte wird eine Umkehrhaltung eingenommen: Verschiedene Formen des sogenannten Kopfstandes, der Kerze und des Schulterstandes stehen im Wechsel zur Verfügung.
Beendet wird die Übungsstunde mit dhyāna und śavāsana, einer kurzen Meditation und der Schlussentspannung. Im häuslichen Bereich soll für alle Übungen des Blattes ein Zeitraum von vierzig Minuten nicht überschritten werden. Anschließende oder vorausgehende Meditation zählt dabei nicht mit.
Das Übungsblatt schließt ab mit Hinweisen auf weitere Termine, die Adresse der Schule und dem Datum. Jedem Übenden wird das Blatt am Ende der Wochenstunde vom Lehrer ausgehändigt.