Aufsitzen

Den Klang dieses Wortes habe ich jetzt noch im Ohr. Es war das erste Wort, das ich im Yogaunterricht gehört habe. Unhörbar hatte der Lehrer seinem Platz eingenommen und „Aufsitzen“ gesagt. Damit begann der Unterricht. Dieser Stil wurde von Selvarajan Yesudian begründet, von Herbert Hildebrand weitergeführt und findet in unserer Schule seit neununddreißig Jahren seine Fortsetzung. Auch heute Vormittag hatten wir eine solche Übungsstunde und ich bin ganz sicher, viele Übende wären sehr enttäuscht gewesen, hätten sie das vertraute Wort nicht gehört. Im Laufe der Stunde kommt so viel Neues auf die Übenden zu, dass es einiger Festpunkte bedarf.

Der Ablauf unserer Yogastunde hat immer die gleiche Form, aber niemals den gleichen Inhalt. Zwei sehr gegensätzliche Elemente – die situationsbedingt wechselnde Verfassung der Übenden und der stets gleichbleibende Übungsstil – vereinen sich zum Gesamtbild und bewirken so das typische Klima der Yoga-Übungsstunde. Während der ganzen Übungszeit hält der Lehrer das Spannungsfeld der Gegensätze aufrecht oder erneuert es. Er schafft damit eine Basis der Schwingung zwischen den mitgebrachten bekannten Erwartungen und den in jeder Stunde unbekannten, neuen Erfahrungen.

So war es auch heute Vormittag. Als Text stand auf dem Übungsblatt ein Wort von Hans-Peter Dürr, das haargenau zum Verlauf unseres derzeitigen Themas passte. Denn am Anfang der Stunde wird immer ein Text gelesen und der Lehrer gibt dazu eine kurze Interpretation. Seit einiger Zeit sprechen wir – wie schon oft – über die verschiedenen Quellen der Kraft, auch der Heilkraft, mit denen der Mensch in Berührung kommt. Wir versuchen zwischen der uns persönlich eigenen, und der dahinter stehenden wahren Kraft zu unterscheiden. Besonders beschäftigt uns die Frage, wodurch die „wahre“ Kraft in ihrer heilenden Wirkung eingeschränkt werden kann.

Weil manchen Übenden der Name Hans-Peter Dürr – trotz seiner vielen Publikationen – nicht bekannt war, haben wir zuerst auf seine Person hingewiesen und hervorgehoben, dass unser Text von einem sehr renommierten Physiker stammt.

Professor Dürr sagt:
In jedem Augenblick wird die Welt neu geschaffen
im Erwartungsfeld der alten.

Hier ist nicht der Platz und die Gelegenheit diese Worte zu deuten, wenn das überhaupt nötig ist. Jedenfalls hat so unsere Übungsstunde begonnen und in den nachfolgenden fünfzig Minuten mag die Brisanz des Themas weitergewirkt haben.

Das Wort Aufsitzen wiederholt sich während der Stunde nicht, es bleibt als markantes Wort dem Anfang vorbehalten. Ganz anders bei der Vielzahl der Formulierungen im Verlauf der Stunde. Für die Ansage der Übungen ist das Mittel der häufigen Wiederholung gleichbleibender Worte gewählt worden. Es hat sich gezeigt, dass damit ein starker und praktischer Ansatz in Richtung unseres Themas „Erneuerung“ verbunden ist. Natürlich erwartet jeder Mensch – bewusst oder unbewusst – in bestimmten Situationen bestimmte Reaktionen: Er lässt die neue Welt (der Übung) im Erwartungs- und Erfahrungsfeld der alten entstehen. Diesem individualistischen Ablauf einen Riegel vorzuschieben ist eine der wichtigsten Absichten unserer Yogastunde. Die Wiederholung einfacher und allgemeingültiger Formeln ist dabei eine wirksame Hilfe.

Unsere innewohnende Kraft und Heilkraft dehnt sich in der Yoga-Übungstunde auf das ganze Wesen des Übenden aus und erlangt Vorrang gegenüber besonderen, persönlichen Erwartungen.

Der Yoga hat mit dem Aufsitzen zum Beginn der Stunde seinen Weg genommen und beruft sich auf das erste Wort der Yogis:

yogaś citta-vṛtti-nirodhaḥ

„Yoga ist das Ende des denkenden Gemüts“ – die Voraussetzung für den Zustand in dem sich die Welt ohne Mitwirkung ihrer Geschöpfe erneuert.