Visionen vs Vokabeln

Gegenüber einem Arzt tut sich der Heilpraktiker schwer
und
gegenüber einem Heilpraktiker tut sich ein Arzt schwer.

Mein Heilpraktiker-Lehrer, Albert Wurm, war wohl zuerst ein Visionär, aber er kannte sich auch gut aus im heilkundlichen Schrifttum und war Herr der pointierten Rede. Unter anderem erzählte er die Geschichte von einem Kollegen, der eine gut gehende Praxis auf dem Lande hatte und als Fachmann für die Behandlung von Bauch- und Verdauungsbeschwerden galt. Nachdem er den Kollegen ausgiebig gelobt hatte, besann er sich auf seine Lehrerfunktion und sagte spitz: „Als ich ihn mal nach bestimmten Symptomen im Leberbereich fragte, kam heraus, dass er das Organ auf der linken Bauchseite vermutete.“

Zugespitzt ist die Geschichte, stimmt schon, sie steht aber nicht allein da. Es soll auch andere Heiler und Heilkundige gegeben haben (vielleicht auch noch geben), deren anatomisches Wissen nicht gerade dem neuesten Standard entsprach. Da sind sicher viele nichtakademische Praktiker tätig, denen es besonders am wissenschaftlichen Vokabular mangelt.

Das ist die eine Seite des Bildes. Die andere ist aber auch ganz lustig. Man erzählt sich, dass es Ärzte gibt, die ihre Patienten ruhig mal zum „Kollegen“ Heilpraktiker gehen lassen, besonders, wenn sie sicher sind, dass der Patient später in ihre Praxis zurückkommt – vielleicht nur für ein Kassenrezept. Über das dann stattfindende Gespräch wird auch geschmunzelt. Der Arzt will nämlich genau wissen was der Heilpraktiker gemacht und verordnet hat, vor allem, wenn es dem Patienten sichtlich besser geht.

Umgekehrt habe ich es selbst erlebt. Ein Heilpraktiker-Kollege hielt ein Seminar über ein neues Medikament. Im Vortrag und später bei der Fragenbeantwortung erlebten die Zuhörer, es waren auch Arzte dabei, dass sie ein wandelndes Lexikon vor sich hatten. Er beantwortete jede Frage sofort, und bei Rückfragen bis in die Tiefen der zugehörigen Literatur.

Und auch das habe ich selbst erlebt: Ein von mir konsultierter Dr. med. musste im Pschyrembel nachschauen, wie der Name eines Zustandes korrekt lautet und wie die Zusammenhänge rundherum beschrieben werden: einfach, weil ich das nun mal wissen wollte. Aber er hatte mich richtig erkannt, sein Behandlungsansatz war sehr erfolgreich.

Interessant sind diese Betrachtungen nur, wenn sie mosaikartig zusammengesetzt sind und wenn man die gegenseitigen Vorbehalte der Therapeuten nicht zu ernst nimmt. Auf dem Yogaweg haben wir mit dem Zusammenwirken der Visionen und/oder Vokabeln anderer gute Erfahrungen gemacht. Intuitives und überliefertes Wissen begegnen einander zwangsläufig immer wieder neu.

Festigkeit auf dem eigenen Weg macht uns freigiebig für die Darstellung von Praktiken und Begriffen aus dem Bereich unserer Tradition. Und hält uns offen für Anwendungen und Thesen anderer Lehren – auch wenn sie eigentlich gar nichts Neues zu sagen haben.

Der Arzt und Yogaexperte Dr. Wladimir Lindenberg hat zum Thema āsanas gesagt: „Der Übende muss erst das Bild der Haltung in sich erzeugen, ehe er sie darzustellen vermag.“ Wir sagen: „Der Therapeut und der Lehrer, beide, müssen ihre Patienten und alle Übenden über eine grüne Wiese springen sehen, unabhängig von der Verfassung in der sie gekommen sind.“