Unlimited Memory
„Unbegrenztes Gedächtnis“, überschreibt Vyaas Houston, der Leiter des American Sanskrit Institute, seinen Newsletter vom Frühjahr 2003. Wenn jemand von seinem Format eine solche Bezeichnung gebraucht, kann man nicht einfach daran vorübergehen. Was er selbst damit meint, ergibt sich aus dem Inhalt seines Briefes. Er berichtet von seiner Erfahrung beim Lernen von Sanskrittexten: dass er, nachdem er im Laufe langer Jahre den rechten Lernstil gefunden hat, nunmehr mühelos 700 bis 800 Sutras in zwei Monaten lernen kann. Und damit keine Grenze erreicht hat.
Obwohl Vyaas Houston Punkt für Punkt die Technik beschreibt, wie – unter Einsatz von Yogaanwendungen – diese Leistung vollbracht werden kann, ist damit unser Interesse an dem Thema nicht erschöpft. Aus unserer Sicht birgt das „Gedächtnis“ ein viel weiter und viel tiefer reichendes Geheimnis.
Es ist uns bewusst, mit dieser Betrachtung an eine Grenze vorgestoßen zu sein. Bis hierhin dürfen wir gehen, weiter nicht. Weil sich aber für den Yogi aus der Art seines Übens oft Situationen ergeben, wo er gern „über den Zaun“ schauen möchte, gibt es entsprechende Regeln. Das dritte Kapitel der Yoga-Sūtras (Vibhuti-Pada: Psychische Kräfte) ist der Schau über den Zaun gewidmet. Allerdings, und das kann nicht deutlich genug gesagt werden, gilt dieses Kapitel nur für Inder. Inder haben einen anderen „psychischen Hintergrund“ als wir. Am besten erkennt man ihre andere Art an der Bedeutung bestimmter Worte: Unter den Begriffen „Gott“, „Götter“ versteht der Inder etwas völlig anderes als der im westlich-christlichen Umfeld lebende Mensch.
Für uns im Westen, unabhängig davon, wie lange wir schon Yoga üben bzw. uns mit indischen Lehren beschäftigen, bleibt das dritte Kapitel tabu. Es gibt auch keinen seriösen indischen Lehrer, der uns in dieser Richtung initiieren würde.
Was also können wir tun? Machen wir einfach kehrt, wenn sich der Zaun vor uns auftut? Eine Möglichkeit wäre das schon. Man könnte „Danke“ sagen und von vorn beginnen, die Sutras einfach wieder neu studieren und weiter üben. Eine andere Möglichkeit gibt es aber auch: Wer bisher gelernt hat Fragen zu stellen, kann es auch an dieser Stelle tun.
Beim Fragenstellen hat sich eine besondere Qualität des Übenden entwickelt, er ist demütig geworden. Er stellt Fragen nicht mit einem begehrlichen Anspruch auf eins zu eins Antworten, die hat er seither auch schon nicht bekommen. Er stellt die Frage, das ist alles. Die Frage bleibt im Raum. Sie wird nicht wiederholt. Seine Frage beantwortet sich zu gegebener Zeit von selbst und zwar so, dass er weiß, das ist die Antwort.
Wollen wir also wissen, was es mit dem Gedächtnis auf sich hat, können wir daraus ja eine Frage machen. Wir können fragen: Wessen Gedächtnis ist gemeint. Wir können die Frage steigern: Ist das Gedächtnis tatsächlich mein Gedächtnis? Und wir können bis zum Letzten gehen und fragen: Wer bin ich?
Dass diese Fragen nicht in unser Weltbild passen liegt auf der Hand. Wenn im Yoga von einem Geheimnis die Rede ist, ist gleichzeitig die Schutzfunktion für Nicht- oder Pseudoyogis mit im Spiel. Es kann sich niemand weh tun – unberechtigte Blicke über den Zaun bleiben ohne Wirkung und ohne Folgen.
Vyaas Houston hat auf seine Weise sein Weltbild verändert, er kann sicher sein, Begrenzungen überschritten zu haben. Sein Medium ist die Sprache, daran nehmen wir dankbar Anteil. Unser Bereich ist Heilung und Hilfe, Teilnehmer sind herzlich eingeladen.