Kompetenz im Yoga
oder
viveka-khyāti
Besser wäre es von Zuständigkeit zu sprechen. Nach dem Wörterbuch umfasst aber das Wort „kompetent“ auch noch die Begriffe „maßgebend“ und „urteilsfähig“. Weil wir auch diese Qualitäten meinen, gebrauchen wir das vom Lateinischen competere (zutreffen, zuständig, maßgeblich) abgeleitete Fremdwort. Um was geht es? Um nichts Neues. Aber um etwas Wichtiges, um etwas, das uns ständig aufs Neue zu schaffen macht. Wer eine Weile Yoga übt – oder auf eine andere Art achtsam geworden ist – erfährt es immer wieder: Es geht um das Problem der zwei Ebenen unserer Erfahrungen. Es geht um zwei grundverschiedene Schichten unserer Erlebniswelt, um Ebenen, die wir ständig miteinander verwechseln und dadurch ständig Schaden leiden. Am Thema Kompetenz lässt sich deutlich wahrnehmen und einfach darstellen was wir meinen – und auf andere Themen übertragen.
Zur Darstellung und zum alltäglichen Umgang mit den beiden Möglichkeiten brauchen wir ein ordnendes Format. Wenn andere Methoden mit soziologischen, philosophischen, psychologischen Techniken lange Wege gehen müssen, um plausible Ordnungen zu finden, hat der Yoga solche durch seine bloße Existenz zur Hand.
Denn Yoga kann man auch viveka nennen.
Überall, vom Anfang bis zum Ende der Aufzeichnungen über den Yoga und in Überreinstimmung mit unserem Erleben im Yoga begegnen wir dem Terminus und der Technik viveka, der Kunst der Unterscheidung. Das Wort bezeichnet zuerst die Unterscheidung zwischen dem was immer (ewig) und dem was nicht immer (nicht ewig) ist. Die Yoga-Sūtras (II,28) sehen den Sinn des Übens des achtgliedrigen Weges, einschließlich dem Einnehmen der Körperhaltungen (der yoga-āsanas), darin, viveka-khyāti, die Schau der Unterscheidung, zu erfahren.
Abgeleitet wird der Begriff viveka aber auch für jedwede andere Unterscheidung gebraucht. Alle polaren, sich gegenseitig ergänzenden Begriffe ordnen sich nach dem Prinzip viveka. Als typische, ausgeformt dargestellte Gegensatzpaare gelten „wahr und unwahr“, „nützlich und nutzlos“ oder, direkt in den Schriften, „raga und dveṣa“ (Zuneigung und Abneigung), auch die Gegenüberstellung von Spirituellem und Materiellem.
Bei unserem Thema Kompetenz unterscheidet der Yogi zwischen der eigenen und der Kompetenz anderer. Aus der Anwendung von viveka in der jeweiligen Situation ergibt sich seine Stellung und sein Verhalten. Er wird sich dankbar vor denen verneigen, deren Kompetenz er verdankt, rechnen, schreiben und lesen zu können, Wissen über das innere und äußere Wesen seiner selbst zu haben, ebenso wie über die Natur, die ihn umgibt. Aus seiner praktizierten Dankbarkeit heraus wird sich aber auch die Sicht öffnen für den Auftrag und die Fähigkeit, selbst zu erforschen und zu erfahren, wer er ist und was ihn umgibt. Und er wird beide Erfahrungsbereiche nicht miteinander verwechseln. Seine Urteilsfähigkeit wird durch Übung ein ausgewogenes Maß zwischen beiden Bereichen finden. Seine eigene Erfahrung wird Zünglein an der Waage sein, wo immer vermeintliche Fakten einander widersprechen.
Zur Verdeutlichung möchte ich noch ein Beispiel aus dem Alltag im Yoga hinzufügen.
Die Gruppe übt gomukhāsana.
Nach Yesudian drei Mal hintereinander.
Nach dem zweiten Mal macht der Lehrer eine Pause.
Er sagt: „Was ich jetzt sage ist nicht Yoga.“
„Die Übung ist gut für die Wirbelsäule
und für Verspannungen im Brustkorb.“
„Wenn Sie Bandscheibenbeschwerden haben
üben Sie behutsam gomukhāsana.“
„Die Übung stärkt Ihr Selbstbewusstsein.
Wenn Sie einen Termin bei Ihrem Vorgesetzten
haben, nehmen Sie vorher diese Haltung ein.“
Die Übenden lächeln, sie ahnen schon
was nun kommt.
Der Lehrer fährt fort: „Wenn ich Ihnen das
wirklich sagen würde und bei all den vielen
Aspekten des Yoga und den Übungen so
sprechen würde, würde ich Ihnen die ganze
Freude verderben.
Sie sollen Ihr eigenes
Entdecken und Erkennen erleben.“
„Das Erlebnis AHA gehört Ihnen“
„Außerdem wäre es ja möglich, dass meine
Ankündigungen bei Ihnen noch gar nicht
eintreten. Vielleicht brauchen Sie noch
eine Weile, bis Sie so weit sind zu sehen,
was geschieht.“
„Manche Übenden unserer Schule haben in
den ersten zehn Jahren nicht wirklich
regelmäßig geübt. Deshalb konnte
auch kaum ein AHA-Erlebnis aufkommen.
Wenn sie dann wegen der Enttäuschung,
die angekündigte Wirkung nicht erreicht
zu haben, ganz aufgehört hätten,
wären die nächsten Jahrzehnte auch
noch verloren gewesen.“
Nach der Methode Yesudian – in erster Linie imaginativ zu üben – können wir es uns leisten – ohne Schaden befürchten zu müssen – Übende zu eigenen Erfahrungen, zu eigener Kompetenz kommen zu lassen.