Wohin gehören die Worte, Übungen, Anweisungen im Yoga?

Frage: Sie sagen, die Übersetzung von Sanskritworten führt zwangsläufig in die Zusammenhänge des bestehenden Wissens, gehört aber nicht dort hin. Wohin gehören dann die Worte, Übungen, Anweisungen im Yoga?
Antwort: Der Yogalehrer kommt nicht umhin, zweierlei Sprachen zu gebrauchen; er wird deutsch sprechen, aber jede Gelegenheit nutzen, Sanskritworte einfließen zu lassen. Anders als im Alltagsleben, wo so gut wie alles auf Deutsch gesagt werden kann, ist das in der Yogapraxis unmöglich, denn wir haben es nicht nur mit zwei Sprachen, sondern mit zwei Welten zu tun. Viele Begriffe der Sanskritsprache haben im Deutschen keine oder eine in die Irre führende Entsprechung. So kennt die Sanskritsprache den Begriff anirvacanīya, der diese Tatsache schon innerhalb ihres eigenen Sprachgefüges feststellt. Ein Beispiel für den Irrweg ist das Sanskritwort śīrṣāsana, welches mit Kopfstand übersetzt wird – den ein Yogi nicht übt. Seine Übung, śīrṣāsana, hat völlig andere Merkmale und Aufgaben. Es stimmt schon, die Übersetzung eines Sanskritwortes führt zwingend in den Bereich des bestehenden Wissens, während das nicht übersetzte Sanskritwort ein anderes Weltbild erschließt: es führt in die spirituelle Seite des Lebens und das damit verbundene, pratyakṣa genannte Wissen. Die Übersetzung vergibt eine Chance.

F: Das heißt, was ich bisher im Leben und von meinen Lehrern erfahren und gelernt habe ist ungültig, für Yogaerfahrungen brauche ich neue Lehrer und mache neue Erfahrungen.
A: Nein und Ja. Nein, denn alle diese Erfahrungen brauchen Sie noch für den Alltag; außerdem war alles, was bisher geschah, notwendige Voraussetzung für den Yogaweg. Ja, mit dem Yoga beginnt ein neues Kapitel Ihres Lebens. Es mag sehr lange dauern, bis Ihnen, vielmehr uns allen, das klar geworden ist. Zur Erleichterung haben wir für das neue Kapitel den in der Yoga-Tradition gültigen Namen übernommen: sādhana. Ausnahmsweise die Übersetzung: Spirituelle Praxis. Die allerwichtigste Aufgabe besteht nun darin, viveka, die Kunst der Unterscheidung, zu praktizieren, also die beiden Bereiche – und Sprachen – nicht durcheinander zu bringen.

F: Sie weisen darauf hin, dass śīrṣāsana eine andere Aufgabe als der Kopfstand hat. Können Sie das erläutern?
A: Gern. Der Kopfstand soll die Durchblutung im oberen Bereich des Körpers und im Kopf fördern und Bewusstsein von Sicherheit bewirken. Bei der Yogaform der Übung geschieht physiologisch dasselbe, aber bewusstseinsmäßig das Gegenteil: diese Übung erschüttert das Ich-bezogene Bewusstsein zutiefst. Śīrṣāsana sollte deshalb streng unter Aufsicht des Lehrers geübt werden.

F: Letzte Frage. Welchen Sinn soll es haben, das Ich-Bewusstsein zu erschüttern?
A: Damit sind wir plötzlich bei der wichtigsten aller Fragen angekommen, aber sie ist – zumindest vorläufig – leicht zu beantworten, nämlich mit der klassischen Gegenfrage: Gibt es überhaupt ein persönliches Ich? Deshalb brauchen wir den Lehrer. Wir brauchen den Lehrer, damit Erschütterung stattfindet. Aus der Unerträglichkeit der Verunsicherung eines – auch im Yoga – stark gewordenen Ichs findet unser Wesen – in einem höherem Bewusstsein, in dhyānaja-citta – den Weg zu sich selbst. Die Lehrer sagen, die Erschütterung sei stark, sie sagen, wir klammern uns mit allen Mitteln an das persönliche Ich. Śīrṣāsana, zusammen mit der Nicht-Interpretation der damit verbundenen Erlebnisse, ist ein Schritt hin zum wahren Selbst, ein Schritt zum tieferen Sinn unseres Lebens und so auch dem Sinn des Yoga.