Der zweite Tag

Es könnte auch heißen, der zweite Versuch oder die zweite Chance. Aber „der zweite Tag“ ist besser, sinnvoller. Gemeint ist auf jeden Fall dasselbe – ein neuer, weiterer Ansatz. Und für zwei steht dann auch drei, vier, fünf- bis unendlich. Jedenfalls wird mit dem Begriff zweiter Tag bewusstseinsmäßig ein ganz wichtiges Merkmal eingefügt: die Pause. Der Abstand. Einmal darüber geschlafen zu haben.

Muss uns immer alles gleich auf Anhieb gelingen, müssen wir immer gleich den richtigen Ton finden oder den richtigen Partner? Die Erfahrung spricht dagegen. Sogar im beruflichen Bereich ist oft der zweite Versuch der glücklichere.

Oft ist der erste Versuch gar nicht auf eigene Initiative gegründet, sondern kopiert die Vorgaben anderer. Die Triebkraft mag wohl die eigene sein, ihre Umsetzung folgt dann aber Regeln und Abläufen, die man von anderen gelernt hat. Im Yoga spielen diese Zusammenhänge eine entscheidende Rolle.

Yoga stellt uns die Frage: Woher stammt dein Wissen und Können? Und nennt uns – zunächst – zwei Quellen: Das Wissen vom Hörensagen und das Wissen durch eigenes Erleben und Erleiden. Yoga-Sūtra I,7 geht tiefer und gliedert das eigene Erleben:

pratykaṣa-anumāna-āgamāḥ pramāṇāni //
Unmittelbare Wahrnehmung, logische Folgerung und
das Zeugnis der Schriften (bilden) die richtige Erkenntnis.
Yoga-Sūtra I,7

An höchster Stelle steht die eigene, unmittelbare, nicht diskutierbare Wahrnehmung, sie ist niemals im Widerspruch zum gesunden Menschenverstand. Logische Folgerung erfordert eigene Praxis nach der Regel: wenn/dann. Das Zeugnis der Schriften wirkt nach den Grundsätzen von svādhyāya, dem eigenen oder Selbststudium. Es muss vielleicht dazu gesagt werden, dass es widersinnig wäre, wenn der Lehrer im Yoga den Umgang mit diesen Merkmalen beeinflussen würde – statt ihn in Szene zu setzen und aufmerksam zu überwachen.

Das Wissen vom Hörensagen umfasst alle nicht selbst erfahrenen Inhalte, vom elitären akademischen Wissen bis hin zur schlichten unverbindlichen Mitteilung z. B. unter Nachbarn.

Weil der Yoga stets, auch bei hohen, weit entfernten Zielen, mit handgreiflich nahen Techniken beginnt, finden wir die Elemente der Sūtra I,7, und ihrer unmittelbaren Erläuterung, schon beim Einnehmen der Körperhaltungen wieder.

In der Übungsstunde lässt der Lehrer die Übungen zwei- manchmal dreimal hintereinander ausführen – mit jeweils einer Pause dazwischen – und spiegelt damit den Sinn der Sūtra wieder unmittelbares, neues Erleben (als wäre es das allererste Mal), Logik und Bestätigung der Schriften ist die Folge der Übungen mit Übungsansage nach Yesudian.

Dieser Ablauf entspricht der großen Lernformel in der Yogapraxis und wird in der weiteren Entwicklung gültig für alle Vorgänge im Leben.

Im Yoga und im Leben muss Raum übrig bleiben für Besinnung, für die Einsicht, nicht alles persönlich zu können. „Versagen“ hat seinen Ursprung darin, dass wir uns den zweiten Versuch selbst versagt haben, oder dass er uns versagt worden ist. Manchmal muss jemand kommen, der uns das Prinzip der schöpferischen Pause lehrt.

Ist die schöpferische Pause eingerichtet, führt uns Yoga noch weiter: Nur formal gesehen wiederholen wir eine Übung. Im Bewusstsein des Übenden, durch seine Öffnung für die fragende Haltung „Wer bin ich?“, ist nun die gleiche Übung, auch noch beim zehnten Mal, eine neue Übung.

Erst übt der Schüler selbst und persönlich, dann lässt er sich auf die Anweisung des Lehrers ein – das ist die nächste Form der gleichen Übung – und schließlich hat er die Identität der Übung angenommen (Ich bin ein Baum).

Jetzt ist die Übung gelungen. Übertragen auf den Alltag schließlich, am zweiten, am nächsten Tag, ist die persönliche oder berufliche Situation geglückt.