Der Kirschbaum

karma-, bhakti-, rāja- und jnāna-yoga sind die vier nicht
voneinander zu trennenden Wege, die zur Wahrheit führen.
Sie stellen die Grundlage dar zum Glücklichsein – durch Arbeit,
Liebe, Selbstbeherrschung und Weisheit.
Selvarajan Yesudian in „Steh auf und sei frei“ (Drei Eichen Verlag)

 

aṅgas
Der Kirschbaum

hatte im Herbst seine Blätter verloren und steht nun dunkel da und kahl im Garten. Plötzlich – inzwischen ist es Juni – hängen Kirschen an seinen Zweigen. Der Hund des Nachbarn kläfft Tag und Nacht, und wenn man ihm zu nahe kommt, beißt er zu. Dann, von einem Tag zum andern, knurrt er – eher freundlich – und wedelt mit dem Schwanz. Die hartnäckige Bronchitis, die den Opa schon so lange plagt und oft nicht schlafen lässt, ist auf einmal – wir gönnen es ihm – völlig verschwunden.

Die drei Bilder haben eins gemeinsam: sie stimmen nicht. In der Schilderung ihrer Abläufe fehlen die Schritte der Entwicklung.

„Wie waren die Stufen deiner Entwicklung?“ würde der Yoga-Aspirant gefragt werden, der von sich behauptete: Ich bin ein Karma-Yogin oder eine Bhakta-Yogini.

Natürlich, so wie man sich die Kirschen reif und rot, den Hund als Haushund und bestimmt auch unseren genesenden Opa als schon frisch und munter vorstellen soll, so muss man sie sich selbst vom ersten Tag an als perfekten Yogi vorstellen. Vorstellen! – Der Unterschied zwischen Yoga und Nicht-Yoga liegt im Umgang mit diesem, dem mächtigsten Wort der Yogis und impliziert ganz selbstverständlich Schritte, Stufen, Glieder – aṅgas.

Bevor jemand karma-yoga, den Weg der Arbeit, als Yogaweg erkennen kann, muss er/sie den Sinn des Weges auf der Stufe der Alltagsarbeit neu erleben. Während er/sie arbeitet, dämmert die Vorstellung herauf, wer eigentlich arbeitet. Genau so ist es bei den anderen drei Wegen: Jemand, der mit bhakti-yoga beginnen will, wird bestenfalls ein Träumer, der frühe jnāni ein Wissenschaftler oder ein Spinner und der eifrig um rāja-yoga bemühte ein Tyrann.

Zudem weiß niemand genau, welcher der vier Wege der zutreffende ist, bevor er/sie nicht alle – übend – durchlebt und durchlitten hat. Arbeit, Liebe, Selbstbeherrschung und Weisheit wollen zuerst auf der Stufe des herkömmlichen Verständnisses neu erlebt werden, bevor sie hin zum yogischen Gehalt überschritten werden können.

Für unsere Verhältnisse ist ein guter Einstieg in den Yoga die geschickte Verknüpfung von drei Elementen: dem – so genannten – Hatha-Yoga, der Rezitation von Texten, einschließlich der Sanskrit-Texte, und dem Umgang mit den Schriften. In diesem Verbund kann der Lehrer die entscheidenden Merkmale der Yogapraxis platzieren: die Pausen, den Halt, die Verlaufsform. Er kann den in aṅgas (Gliedern) verfassten Verlauf der Übungen mit anderen stufenweisen Abläufen – zum Beispiel im Hinblick auf die Funktionen des eigenen Körpers oder auf die Ereignisse der äußeren Natur-, in Verbindung bringen.

Der Lehrer kann zum Beispiel erleben lassen, dass die Phase der Einatmung zwar Teil der ganzen Atemrunde, aber auch ein in sich mit Anfang und Ende ausgestatteter Vorgang ist. Er kann es zum Erlebnis werden lassen, dass der Unterschied zwischen Atem und Yogi-Atem im ersten Fall in der Betonung in der Atembewegung und im zweiten in kumbhaka, der (Atem)-Pause liegt.

Erlebnisse dieser Art geben den Erscheinungsweisen unserer Natur, auch unserem Wohl- und „Krank-„sein, ihren wahren Sinn zurück. Oder, wie Yesudian sagt, sie sind Wege, die zur Wahrheit führen.