Der Grundriss

Wenn Sie die Internetadresse „www.newyorkyoga.com“ öffnen und zum linken Auswahlfeld weitergehen, finden Sie das Feld „Instructors“: nun brauchen Sie nur noch die Namen der Lehrerinnen und Lehrer zu betrachten und wieder zu klicken – dann sehen Sie schon, was ich meine. Recht gut aussehende Damen und Herren stellen sich, mit Bild und Text, einem stark interessierten Publikum vor. Nehmen Sie sich bitte noch etwas Zeit und lesen Sie die Angaben zu den einzelnen Personen. Dabei nämlich können Sie leicht den Unterschied zwischen deren und unserem Yoga erkennen. Sicher, wir sind drauf und dran den Abstand zu verringern, aber der Blick nach Amerika ist immer noch wie durch ein Vergrößerungsglas. Vieles ist dort deutlicher ausgeprägt als bei uns. Auch bei uns gilt es heute schon als wünschenswert, bei einer ganzen Anzahl von Lehrern und Meistern eine ganze Anzahl von Techniken und Methoden gelernt zu haben, nur sind es eben doch (noch) nicht so viele und großartige wie dort.

Ist die hier durchklingende Kritik eigentlich unerwünscht, oder sind Hinweise auf Zweifel am Sinn der vielen vermeintlich erlernten Methoden gar willkommen? Beides ist uns schon begegnet. Eine Frage sollte jedenfalls angebracht sein: Die Frage nach der Zeit, die notwendig ist, eine sinnvolle und seriöse Technik zu erlernen. Von indischen Lehrern wissen wir, dass sie oft von Kindheit an mit den Texten und Praktiken der Yogalehre vertraut gemacht worden sind, dass es Jahre und Jahrzehnte gedauert hat, bis sie die Reife zur Weitergabe erlangt und vom Lehrer bestätigt bekommen haben. Wer hat eigentlich bei uns im Westen damit begonnen zu sagen, drei, vier, auch sieben Jahre der Ausbildung seien das Maß der Dinge? Unser Lehrer, Selvarajan Yesudian, war es bestimmt nicht, er hat, aus dem sehr großen Kreis seiner langjährigen Schüler nur wenigen die Erlaubnis zur Weitergabe erteilt.

Dieser Text enthält keine (massive) Kritik, aber fragt danach, welche Wege der Yoga im Westen weitergeht. Aus der Erfahrung unserer Schule kennen wir die Gründe, weshalb Menschen Yoga üben, gewiss ebenso gut, wie wir das von anderen Schulen vermuten. Die Übenden suchen beides: Zuverlässigkeit und Entwicklung. Zuverlässigkeit gründet in der Wiederholung, Entwicklung in der zunehmenden Schau des Einen in der Vielfalt. Wiederholung macht den Grundriss sichtbar, lässt zuverlässig – durch Wiederholung – die Grundidee der Lehre in allen ihren Erscheinungsweisen erkennen,

Die Entwicklung des Übenden im Yoga geht nicht in die Breite, sondern in die Tiefe. Dazu braucht er keine Vielfalt von Lehren und Lehrern. Er braucht den Lehrer, der ihm auf der Basis einer Lehre an jener Stelle zuverlässig „Halt“ gebietet, wo es brenzlig wird, wo er am liebsten einen Umweg machen möchte, wo er es lieber mit einer anderen Technik versuchen möchte.

Es ist recht aufschlussreich, gelegentlich spontane Äußerungen zu diesem Thema zu hören. Der Lehrer wird auf keinen Fall solche Äußerungen anfordern, im therapeutischen Bereich kommen sie jedoch von selbst. Begleitet von einer gewissen Bangigkeit wird die Frage gestellt. „Ich bin heute morgen bei der Übung xyz viel tiefer/höher/weiter gekommen, kann das gefährlich werden?“ Das ist die Stunde des Lehrers, hier zählt seine Erfahrung – sie darf nicht zu knapp bemessen sein,

Herbert Hildebrand hat in seinen späteren Jahren eigentlich nur noch vom „Loslassen“ gesprochen – das sei alles, was notwendig ist. Gemeint hat er natürlich zuerst das Verhalten auf der Übungsmatte, in der Konsequenz aber ebenso die Auswirkung dieses Verhaltens auf das, was es sonst noch gibt. Wir, in seiner Nachfolge, öffnen den Blick auch in die entgegengesezte Richtung: Die Lösung einer Alltagsfrage mit den Mitteln, die die Erfahrungen der eigene Übungsmatte bieten. Eine zuverlässige, entwicklungsfähige und wiederholbare Schau des einen Grundrisses, der alle Fragen und Antworten umfasst, wird frei.

Bei dem Blick über den Ozean könnte man dann sagen, wir können gegenseitig von einander lernen.